17
Juni
2013
|
12:24
Europe/Amsterdam

1-Jahres Bilanz im VELUX LichtAktiv Haus: Ein zum Nullenergiehaus saniertes Siedlerhaus unter der Lupe der Wissenschaft

Wohnexperiment „erzeugt“ Energie, Tageslicht und hohe Wohnqualität

 

Das LichtAktiv Haus ist der deutsche Beitrag zum europaweiten Velux Experiment Model Home 2020, in dessen Rahmen das Unternehmen Erkenntnisse darüber gewinnen will, wie eine umweltverträgliche Wohnlösung konzipiert sein sollte, die seinen Bewohnern gleichzeitig ein gesundes Raumklima und hohen Wohnkomfort bietet. Das als Nullenergiehaus modernisierte typische Siedlerhaus aus den 50er Jahren erzeugt die benötigte Energie inklusive des Haushaltsstroms durch erneuerbare Energien und eine anspruchsvolle Tageslichtarchitektur sorgt für Wohlbefinden und Behaglichkeit. Um herauszufinden, wie das LichtAktiv Haus im täglichen Betrieb funktioniert, stellt eine vierköpfige Testfamilie das Gebäude zwei Jahre auf die Probe. Begleitet wird dieses Wohnexperiment durch ein umfassendes wissenschaftliches Monitoring der Technischen Universitäten Braunschweig und Darmstadt sowie der Humboldt-Universität zu Berlin, dessen Konzept physikalische und soziologische Untersuchungsmethoden verbindet.

 

„Die Planung nachhaltiger Gebäude erschöpft sich nicht in technischen Einzelmaßnahmen zur Erfüllung eines hohen Energiestandards. Es kann nicht oberstes Ziel sein, die Gebäudehülle noch hermetischer zu dämmen, um die Wärmeverluste immer weiter zu reduzieren. Nachhaltigkeit ist komplexer: es geht darum, eine Vielfalt von Anforderungen zu erfüllen, insbesondere die Maximen Wohnqualität, Ressourcenschonung und Umweltschutz in Einklang zu bringen“, erklärt Professor Manfred Hegger, Leiter des Fachgebietes Entwerfen und Energieeffizientes Bauen an der TU Darmstadt. „Die im LichtAktiv Haus Experiment gewonnenen Erkenntnisse erlauben wertvolle Rückschlüsse für die Forschung und Lehre in der Architektur. Sie helfen bei der Beantwortung der grundsätzlichen Frage, was in Bezug auf zukünftige Wohnqualität wirklich wichtig ist und wie eine umweltverträgliche Wohnlösung konzipiert sein sollte: Jedenfalls sollte sie ihren Bewohnern einen hohen Wohnkomfort mit viel Tageslicht und frischer Luft bei gleichzeitiger Minimierung des Ökologischen Fußabdrucks bieten.“

 

Hierfür werden seit Januar 2012 kontinuierlich alle Daten zu Energieerzeugung und -verbrauch sowie das Außenklima und die entsprechenden Innenraumwerte quantitativ erfasst und dokumentiert. Parallel dazu beantwortet die Testfamilie im Rahmen von qualitativen Interviews, Gruppendiskussionen und Onlinebefragungen regelmäßig Fragen zu ihrem persönlichen Wohn- und Wohlfühlgefühl, um einen Bezug zu den quantitativen Messwerten herzustellen. Seit Februar 2013 ergänzt zudem ein Elektroauto das Wohnexperiment und erhöht die Eigennutzungsquote der solar gewonnenen elektrischen Energie.

 

Hohe regenerative Erträge und geringer Wärmebedarf bestätigen Konzept

Nun liegen die Ergebnisse für das erste Jahr vor. Sie zeigen, dass das modernisierte Siedlerhaus in den meisten Bereichen die Erwartungen erfüllt oder sogar übertrifft. So liegen sowohl die solarthermischen Erträge als auch die Gewinne aus der Photovoltaik über den kalkulierten Werten. Zugleich ist der Heizwärmebedarf im Gebäude geringer als vorausberechnet – und das, obwohl die Innenraumtemperatur im Winter durchschnittlich rund zweieinhalb Grad über den nach Norm kalkulierten Werten lag. Dieses Ergebnis zeigt, dass ein niedriger Energieverbrauch auch mit einer bedarfsgerechten natürlichen Lüftung ohne Wärmerückgewinnung erzielt werden kann. Zudem gewährleistet die natürliche Querlüftung in den Sommermonaten auch bei Außentemperaturen von annähernd 40° C noch Temperaturen von 25-28° C im Gebäudeinneren, die aufgrund der Luftbewegung als angenehm empfunden werden.

 

„Es wird in der Zukunft nicht nur darum gehen, Energie zu sparen, wie es beispielsweise das Passivhaus durch die strikte Begrenzung des Heizenergiebedarfs vorgibt und damit eindimensional dicke Dämmschichten oder mechanische Lüftungssysteme indirekt einfordert, sondern um ein gesamtökonomisches Optimum aus Bedarfsreduzierung und ökologischer Energieversorgung“, erklärt Prof. Dr. Ing. Norbert Fisch, Leiter des Instituts für Gebäude- und Solartechnik der TU Braunschweig. „Ein Null- oder Plusenergiehaus bringt seinen Nutzern zudem mehr Unabhängigkeit von den schwindenden fossilen Ressourcen und den volatilen Entwicklungen der Energiepreise. Das Hamburger LichtAktiv Haus zeigt, dass das Konzept Potentiale für Neubauten und Sanierungen gleichermaßen bietet, inklusive der Chance, erneuerbare Energie auf ästhetische Weise als Gestaltungsmerkmal integrativ zu nutzen.“

 

Auch das gute Raumklima im Haus überzeugt. Die Werte für die relative Raumluftfeuchte liegen im Winter zwischen 45 und 55 Prozent und sind damit für die Heizperiode sehr komfortabel. Die Luftqualität und der CO2-Gehalt der Luft entsprechen grundsätzlich den Erwartungen.

 

Stromverbrauch der Anlagentechnik erfordert Optimierungsmaßnahmen

Während der Stromverbrauch durch die Testfamilie mit 18 kWh pro Quadratmeter und Jahr den Wert von 20 kWh/(m²a) unterschreitet, den das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) als Maßstab für ein Effizienzhaus angibt, liegt der Stromverbrauch der Anlagentechnik zur Wärmebereitstellung über den kalkulierten Werten. Insgesamt beträgt die gemessene Abweichung etwa 55 Prozent – beziehungsweise absolut rund 2.500 kWh/a – gegenüber den ursprünglichen Berechnungen.

Die Ursache hierfür liegt vor allem in der Komplexität des gesamten Systems und den Voreinstellungen beispielsweise von Ventilen, Pumpen und Regelungen. Einen untergeordneten Einfluss hat die von den Bewohnern gewünschte höhere Raumtemperatur in den Wintermonaten, die mit durchschnittlich 22,4° C rund zweieinhalb Grad über der nach EnEV erfolgten Auslegung von 20° C lag. Eine von den Wissenschaftlern der TU Braunschweig durchgeführte Normalisierungsberechnung des Verbrauchs, die diese höhere Temperatur berücksichtigt, bestätigt, dass die Regelung der Anlagentechnik zur Wärmebereitstellung zu optimieren ist.

 

Außerdem hat das Experiment gezeigt, dass die solarthermische Anlage für eine vierköpfige Familie zu groß dimensioniert ist. Deshalb müssen im Sommer die nicht nutz- und speicherbaren Erträge über die Außeneinheit der Wärmepumpe abgeführt werden. Diese „Rückkühlung“ führt zu einem erhöhten Stromverbrauch der Anlagentechnik in den Sommermonaten. Um diesen Stromverbrauch zu reduzieren, haben Velux und die beteiligten Wissenschaftler entschieden, das Experiment um eine Geothermie-Anlage zu ergänzen. Diese nimmt die solaren Überschüsse aus den Sommermonaten auf und stellt im Winter ein höheres Temperaturniveau bereit. Dadurch wird die solare Deckung erhöht und der Energieverbrauch im Winter reduziert.

 

Im Rahmen des Experiments wird außerdem der Stromverbrauch der technischen Ausstattung für die differenzierte Messdatenerfassung und der Nutzerbildschirme für die Visualisierung der Daten im LichtAktiv Haus erfasst. Da diese Ausstattung jedoch nicht repräsentativ für vergleichbare Gebäude ist, wird der von der Monitoring-Technik verbrauchte Strom in der Energiebilanz des LichtAktiv Hauses nicht berücksichtigt.

 

Wohn-Wohlbefinden als mehrdimensionales Konstrukt

Parallel zu den physikalischen Messungen untersuchen die Soziologen der Humboldt-Universität zu Berlin die wahrgenommenen Erfahrungen der LichtAktiv Haus-Bewohner. Ziel ist es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sich nachhaltiges Wohnen auf das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner auswirkt und so eine Well-being-Forschung des Wohnens zu begründen. Die Grundidee der Well-being-Forschung des Wohnens ist ein dreidimensionales Einstellungsmodell, das zwischen drei Kategorien von Reaktionen auf Einstellungen unterscheidet – affektiv, kognitiv, und konativ – die jeweils verbal und nonverbal auftreten und gemessen werden können. So lösen beispielsweise die Helligkeit, die Funktionalität oder das soziale Umfeld des LichtAktiv Haus bei den Bewohnern bestimmte Gefühle aus (Affekt), produzieren bestimmte Meinungen (Kognition) und beeinflussen das Verhalten (Konation). Alle diese Reaktionen lassen sich messen.

 

Da sich die Einstellungen, also das Wohn-Wohlbefinden bzw. die Bewertung desselben, aufgrund der im Laufe der Zeit gemachten Erfahrungen kontinuierlich verändern, müssen diese Messungen wiederholt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Anzahl neuer Eindrücke nach einem ausreichend langen Zeitraum zurückgeht und sich somit eine relativ sichere Beurteilung zum Wohnwert eines neuen Zuhauses erfassen lässt. Idealerweise ermöglicht der Evaluationsprozess dabei eine Einschätzung über die Bedeutung der verschiedenen affektiven, kognitiven und konativen Komponenten für die Einstellungsbildung.

 

Das psychosoziale Monitoring des VELUX LichtAktiv Hauses

Das Untersuchungsdesign, das im Rahmen des Wohnexperiments im LichtAktiv Haus zum Einsatz kam, besteht aus verschiedenen Instrumenten, die es ermöglichen, die Einstellungen der Testfamilie zu ihrem neuen Zuhause und mögliche Veränderungen im Zeitverlauf zu erfassen. Hierzu gehört eine ausführliche Gruppendiskussion zu Beginn des Experiments sowie im Wechsel der vier Jahreszeiten durchgeführte, leitfadengestützte Interviews mit der Familie vor Ort im LichtAktiv Haus. Zudem füllen die Bewohner etwa alle vier Wochen einen Online-Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen zu den Dimensionen des Wohlbefindens aus und etwa alle vier bis acht Wochen werden mit den Eltern vertiefende, leitfadengestützte Interviews in Form von Videotelefonaten durchgeführt. Darüber hinaus hält die Familie in einem dem Monitoringteam zugänglichen digitalen Tagebuch alle Einschätzungen im Zusammenhang mit ihrem Wohnen fest und berichtet in einem öffentlichen Blog über ihre Erfahrungen im LichtAktiv Haus. Die Auswertung der im Detail protokollierten Aussagen ermöglicht es den Wissenschaftlern, das Wohlbefinden der Familie im LichtAktiv Haus wissenschaftlich zu beurteilen. Zudem können die Wissenschaftler die Empfindungen und das Verhalten der Bewohner mit den Ergebnissen der quantitativen Evaluation vergleichen und bei Bedarf die Technik optimieren.

 

Positive Resonanz der Testfamilie

Die Interviews mit der Testfamilie zeigen, dass diese sich, von einigen kleineren Kritikpunkten abgesehen, sehr wohl im neuen Zuhause fühlt. „Anfangs hat es uns irritiert, wenn die Fenster einfach von selbst aufgingen, und auch an die Geräusche mussten wir uns erst gewöhnen“, berichtet Christian Oldendorf, „aber mittlerweile ist die Automatisierung für uns eine wirkliche Bereicherung, auf die wir nicht mehr verzichten möchten.“ Dies bestätigte auch ein kleines Experiment: „Um herauszufinden, ob wir die Technik vermissen werden und wie sich die Luftqualität ohne Lüftungsautomatik entwickelt, sollten wir zwei Tage auf althergebrachte Weise lüften und die Außenjalousien manuell steuern. Seit sie wieder läuft, ist die Raumluft wieder viel frischer und die Zimmertemperatur angenehmer. Das war in den vergangenen Tagen anders und fiel uns sofort auf“, so Christian Oldendorf.

 

Besonders gut gefällt der Testfamilie die Kombination aus großzügigen, hohen Räumen im Erweiterungsbau und dem sanierten Altbau, der mit seinen unverändert kleinen Zimmern gute Möglichkeiten bietet, sich zurückzuziehen. Auch die behaglichen Raumtemperaturen, die optimale Luftqualität sowie die enorme Helligkeit der Räume werden von den Bewohnern immer wieder positiv hervorgehoben. „Wie bei Sonnenaufgang das Licht sanft in die Räume gleitet, ist unbeschreiblich. Das muss man einfach erleben, am liebsten jeden Morgen wieder“, beschreibt Irina Oldendorf das Spiel von Licht und Schatten – und fragt sich zugleich: „Wie sind wir eigentlich früher ohne all das Licht ausgekommen?“

 

Mit den technischen Möglichkeiten geht die Familie sehr selbstbewusst um und hat gelernt, bei Bedarf in die Technik einzugreifen und sie an ihre eigenen Bedürfnisse anzupassen. „Das Haus macht, was wir wollen und nicht umgekehrt“, sagt Irina Oldendorf. „Wenn wir zum Beispiel nicht möchten, dass sich die Fenster öffnen, wenn wir abends vor dem Fernseher sitzen, schalten wir die Automatik auch zwischendurch einfach mal aus.“ Aus diesem Grund entsteht zu keinem Zeitpunkt das Gefühl der „technischen“ Bevormundung. Auch in Bezug auf den Aspekt Nachhaltigkeit erfüllt das LichtAktiv Haus die Erwartungen. Die Testfamilie identifiziert sich sehr stark mit dem Projekt und ist stolz darauf, das Wohnen der Zukunft zu vertreten. „Das faszinierende an der ganzen Technik ist, dass wir die Verbrauchsdaten auch jederzeit selbst auf den eingebauten Bildschirmen ablesen können. Dadurch ist unsere Sensibilität für den Energieverbrauch deutlich gestiegen“, so Christian Oldendorf. Diese hohe Wohnzufriedenheit der Testfamilie und das Zusammenspiel von Gebäude und Technik zeigen, dass sich höchster Wohnwert bei optimaler Nutzung erneuerbarer Energien auch bei der Modernisierung von Bestandsgebäuden verwirklichen lässt.

 

Ausblick

In den kommenden Monaten wird die Anlagentechnik optimiert, um den Energieverbrauch für die Wärmebereitstellung zu senken. Zudem wird das Wohnexperiment über den Jahreswechsel hinaus bis März 2014 verlängert. So kann der Energieverbrauch des kommenden Winters mit den beiden vergangenen Wintern verglichen und der Erfolg der Optimierungsmaßnahmen sowie die Wirtschaftlichkeit der Geothermie-Anlage überprüft werden. Zusätzlich werden die Verbrauchsdaten des Elektrofahrzeugs in das Monitoring der beteiligten Universitäten einfließen. Ziel ist es, Erkenntnisse über eine wirtschaftliche Nutzung von selbst erzeugtem Strom für die Elektromobilität zu gewinnen und die Frage zu klären, inwieweit Null- oder Plusenergiegebäude in Verbindung mit Elektromobilität bereit für eine breite Nutzung sind.